Predigt: Den Zweiflern neue Kraft

Predigt am Sonntag Quasimodogeniti 2014: den Zweiflern neue Kraft
Zell/Weipoltshausen, 27.4.214

Text: Jes 40, 26-31

Liebe Gemeinde!

Warum, Gott?

Diese Frage stellen wir uns immer wieder. Warum lässt du es zu, dass ein Mensch, den ich liebe, so krank wird? Oder vielleicht ich selber? Warum lässt du es zu, dass so viele Menschen auf der Welt leiden? Warum kannst du diese Welt nicht ein wenig angenehmer, schöner gestalten, ohne Leid, ohne Krankheit, ohne Schmerzen, zu frühe Abschiede, Streit, Krieg und all das?

Das ist eine sehr wichtige Frage, auf die es letztlich nur zwei mögliche Antworten gibt. Doch zu denen komme ich später. Erst einmal möchte ich sie mitnehmen in eine Zeit vor grob gesagt zweieinhalbtausend Jahren, zum Volk Israel. Immer hatte es sich darauf verlassen: Wir sind das auserwählte Volk. Unser Gott hilft uns schon. Uns kann nichts passieren, wir haben ja einen Bund mit unserem Gott. Das mag sie auch ein wenig überheblich gemacht haben, diese Einstellung. Militärisch etwas blauäugig. Jedenfalls: Eines Tages, nach langer Belagerung, wurde Jerusalem von den Babyloniern eingenommen. Das Unvorstellbare geschah: Der Tempel Gottes wurde zerstört, der heiligste Ort ihres Gottes. Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht. Und alle, die irgend etwas zu sagen hatten in der israelitischen Gesellschaft, wurden verschleppt ins ferne Babylon. Die, die übrig blieben im Land, flüchteten zum großen Teil in die andere Richtung, zur anderen Großmacht der damaligen Zeit, nach Ägypten. Doch im Gelobten Land selbst, dem Land, da nach Gottes Verheißung Milch und Honig fließen sollten – da lebte praktisch niemand mehr. Das Volk Israel, das Volk Gottes! war völlig am Ende. Sie wussten nicht mal mehr so recht, ob sie ihren Gott denn jetzt noch anbeten konnten, durften und sollten. Er hatte ihnen ja offensichtlich nicht geholfen. Sie waren weit weg von der Heimat, sozusagen vom Wirkungskreis Gottes. In einem fremden Land, in dem andere Götter angebetet wurden. Sollten sie jetzt denen huldigen? Die waren doch offenbar stärker. Deren Volk hatte den Sieg davongetragen.

Warum, Gott?

Warum lässt du dieses Elend zu? Unsere Heimatlosigkeit, unsere Zerstreuung, unsere Verzweiflung? Warum, Gott, greifst du nicht ein und machst uns wieder zu dem starken, stolzen Volk, das wir einmal waren? Wir sind es müde. Wir sind es Leid, dieses elende Leben fern von daheim zu führen. Komm doch, rette uns, Gott! Zeig uns, dass es dich noch gibt!

Es hat lange gedauert, bis sich damals, im Babylonischen Exil, die Überzeugung ausbreitete: Gott ist bei uns, auch hier, auch im Leid, in der Verbannung, im Exil. Am deutlichsten wird der Wandel beim Propheten Jesaja, der 39 Kapitel lang gemahnt und gewarnt hatte – und dann in Kapitel 40 einsetzt mit den Worten: „Tröstet, tröstet mein Volk! Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist.“

Aus diesem zweiten Jesaja, der so sehr anders redet als der erste, dass man ihn in der Forschung auch meistens für eine andere Person hält, stammt unser heutiger Predigttext. Und man muss wirklich nicht Israelit in der Verbannung sein, um diese Worte des zweiten Jesaja auf sich selbst zu beziehen, auf die eigenen Fragen nach dem „Warum“. Wenige Verse nach seinem „Tröstet!“ lesen wir diese Worte an die Verzweifelten, Verstreuten. An die, die an Gottes Existenz zweifeln, an seiner Liebe und Zuwendung sowieso. Zu ihnen und zu uns spricht der zweite Jesaja:

Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. 27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: «Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber»? 28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. 29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. 30 Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; 31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

„Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft“. Wie oft habe ich es schon gehört in Gesprächen mit Menschen, die ein einschneidendes Erlebnis in ihrem Leben hatten, eine tiefe Krise. Immer war da die Frage nach dem „Warum“. Wie kannst du das zulassen, Gott? Wie kannst du mir das zumuten? Warum tust du nichts dagegen?

Zwei mögliche Antworten gibt es darauf, habe ich vorhin gesagt. Eine davon ist schnell erzählt. Es ist die Schlussfolgerung: Wenn mir – oder jemand anderem – so ein Leid widerfahren kann, dann kann es keinen Gott geben. Oder wenn, dann kann ich an den nicht mehr glauben, denn er ist kein „lieber Gott“, sondern ein ferner, böser, rachsüchtiger oder was auch immer.

Ich kann das durchaus verstehen, dass Menschen so reagieren. Dass sie die Existenz Gottes bestreiten, aus ihrer eigenen Erfahrung heraus. Auch Israel war damals ganz ganz kurz davor. Doch es gibt noch die andere Möglichkeit, auf die Herausforderung von Leid, Einsamkeit, Krankheit, Verzweiflung zu antworten. Ich glaube, sie erfordert mehr Mut. Mehr Durchhaltevermögen. Mehr ... Kraft. Es ist dieses „Dennoch bleibe ich stets an dir“. Dieses Festhalten an Gott, trotz allem, auch wenn man dafür belächelt wird, auch wenn man gesagt bekommt: Das ist doch irre.

Der zweite Jesaja weist Israel und uns darauf hin, wie Gottes Kraft und Schönheit in der Natur zu spüren sind.

Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. 27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: «Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber»? 28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.

Nein, Gott hat sich nicht zurückgezogen. Aber er ist anders, als wir denken. Er ist für uns nicht zu verstehen. „Meine Wege sind nicht eure Wege“, sagt Gott durch diesen zweiten Jesaja ein paar Kapitel später. Aber er lässt uns dabei nicht allein. So schreibt der Prophet weiter:

29 Gott gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. 30 Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; 31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

Unser Glaube ist schon eine seltsame Sache, liebe Gemeinde. Eigentlich müssten wir wohl damit aufhören, wenn man es vernünftig betrachtet. Ja, es stimmt: Auf die unbeantwortete Frage nach dem „Warum“ gibt es scheinbar nur diese eine Antwort: Gott gibt es nicht. Aber dann sagt dieser Jesaja hier: Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft. Ich hoffe, dass Sie das auch schon erfahren haben: Gott gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. „Stärke genug“ - das heißt nicht: Gott nimmt alles Leid hinweg. Das wird er erst am Ende der Zeit tun. Sondern: Stärke genug, es zu ertragen. Darauf zu hoffen und zu vertrauen, dass Gott dabei ist, trotz aller Anfechtungen. Das ist, ehrlich gesagt, eine ganz schöne Zumutung. Aber haben wir das nicht auch bei Jesus selbst so erlebt? In den letzten Wochen haben wir von seinem Leiden gehört. Von Verrat, von Einsamkeit, ja von dem Gefühl: Gott hat mich verlassen. Doch dann, am Ende, stand der Jubel, der auch für uns gilt, die wir manchmal genau so am Boden zerstört und im Tod verstrickt sind: Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Halleluja!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alles unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.