Überwacht euch doch erst mal selber!

Das Thema Überwachung ist seit den ersten Schlagzeilen um Edward Snowden nicht mehr aus den Nachrichten verschwunden. Dabei ist es eigentlich viel älter: Schon vor dem Mauerfall 1989 titelte der Spiegel: „Freund hört mit. Die Libyen - Aufklärer: Amerikas Super-Geheimdienst NSA“. Und doch – es ist so seltsam ungreifbar. „Ich habe doch nichts zu verbergen“, sagen viele. „Wer soll sich schon für mein kleines, armseliges Leben interessieren.“

Ja, das gilt vermutlich für alle, die wirklich ein stromlinienförmiges Leben führen. Aber mal ganz ehrlich: Gibt es in Ihrem Leben nichts, gar nichts, was Sie Ihrem Nachbarn lieber nicht erzählen möchten? Ist Ihr Leben so langweilig? Warum ich als Pfarrer schon die Speicherung der angeblich so harmlosen Metadaten – also wer kommuniziert wann mit wem – für problematisch halte, habe ich auch bereits im Juli 2013 geschrieben. 

Wir kennen das aus der deutschen Geschichte. Die Stasi hat in der DDR alles und jeden bespitzelt, eine Kultur des Misstrauens gesät. Wer in unserer Gruppe ist der Spitzel? Wem kann ich wirklich vertrauen? Ist unsere Wohnung abhörsicher? Fragen, die das Leben all derer bestimmten, die auch nur ein wenig von der offiziellen Position abwichen. Übrigens insbesondere auch das Leben von Christinnen und Christen.

Die Stasi war dazu weitgehend auf Menschen angewiesen, das machte sie im Verhältnis noch greifbarer und erlebbarer. Auch Wanzen konnte man entdecken. Die heutigen Geheimdienste nutzen einfach unsere sowieso vorhandene Kommunikation, greifen sie heimlich ab.

Mag sein, dass mein Leben harmlos und uninteressant ist. Ich möchte trotzdem nicht, dass Webcam-Bilder von mir beim GHCQ in Großbritannien auftauchen. Ist es schon hysterisch, wenn ich im Hotel die Laptop-Webcam abdecke, wenn ich mich umziehe? Oder, nach diversen Meldungen der letzten Zeit, vielleicht dringend notwendig? Wie verändert sich mein Leben durch Überwachung, sei sie nun real oder nur von mir vermutet?

Die Schriftstellerin Juli Zeh hat bereits im Juli 2013 einen offenen Brief an Kanzlerin Merkel geschrieben, gefolgt von einem internationalen Appell, der von etwa 1000 Schriftstellerinnen und Schriftstellern unterzeichnet wurde. Nun hat sie in der ZEIT nochmal nachgehakt, da bisher keine Antwort erfolgte. 

Rolf Weber, ein mir bisher unbekannter Informatiker(?) – zumindest laut Google+-Account  Angestellter bei INFOSERVE GmbH, Saarbrücken – machte mich via Twitter auf seine Kritik an Juli Zehs Artikel aufmerksam. Darauf möchte ich an einigen Punkten eingehen. Sein Google+-Account besteht übrigens in großen Teilen aus kritischen Betrachtungen der Snowden-“Enthüllungen“. Eine Sache kritisch zu hinterfragen, halte ich ja grundsätzlich für gut.

Ein großer Kritikpunkt ist für ihn, Snowden (und Zeh) behaupteten, die NSA hätten über PRISM direkten Zugang zu den Servern von Google, Facebook, Apple usw. Nun: Die veröffentlichte Präsentation legt diesen Schluss ja tatsächlich nahe. Dass es meist eher ein indirekter, verborgener Zugang ist, wurde wohl erst im Lauf der Zeit klar. Und inwieweit es tatsächlich ausreicht, dass z.B. Google seine Kommunikation jetzt verschlüsselt, ist spätestens seit dem Heartbleed-Bug eine offene Frage. Natürlich macht Verschlüsselung das Abhören schwieriger – aber mit der entsprechenden Rechenpower ist das auch zum Teil wieder auszugleichen.

Einen Absatz möchte ich hier komplett zitieren:

(Juli Zeh) Was NSA und Internetkonzerne wie Google oder Facebook betreiben, ist kein Datensammeln aus Spaß an der Freud. Auch hat es wenig mit dem zu tun, was Sie oder ich unter nationaler Sicherheit verstehen. Ziel des Spiels ist das Erreichen von Vorhersehbarkeit und damit Steuerbarkeit von menschlichem Verhalten im Ganzen.

(Rolf Weber) Woher weiß Frau Zeh, was "Ziel des Spiels" von NSA und Google ist? Aus welchen Snowden-Dokumenten geht hervor, dass "Steuerbarkeit von menschlichem Verhalten" ein Ziel der NSA sei? Welche Belege hat Frau Zeh dafür, dass das ein Ziel von Google sei? Es ist eine pure Unterstellung, für das es keinen Beleg gibt, außer dem offensichtlich von Verschwörungstheorien bestimmten Weltbild von Frau Zeh.

Wenn man nüchtern darüber nachdenkt, dann könnte man auch auf die Idee kommen, dass es Ziel der NSA ist, nachrichtendienstliche Informationen im Auftrag der amerikanischen Regierung zu sammeln. Diese Ziele werden von der amerikanischen Regierung definiert, und "dank" den Veröffentlichungen von Edward Snowden kann inzwischen jeder Interessierte diese Ziele auch nachlesen. Da steht alles drin, von der Terrorbekämpfung über Atomprogramme, Embargobrüche hin zu klassischer politischer Spionage. Und noch einige andere Dinge mehr.

Nur: Von "Steuerbarkeit von menschlichem Verhalten" steht da darin nichts.

Nun – natürlich steht in den Zielen der NSA nichts von Steuerbarkeit des menschlichen Verhaltens. Sehr wohl aber von Vorhersagbarkeit. Denn genau darauf zielt ja die Terrorabwehr ab: Menschliches Verhalten vorhersagen. Anschläge verhindern, bevor sie geschehen. Und das Ganze, genau: Im Auftrag der amerikanischen Regierung. Der amerikanischen, nicht der deutschen. Ich glaube, hier müssen wir ganz genau unterscheiden zwischen den deutschen und den amerikanischen Interessen. Mag sein, dass ein Geheimdienst nötig ist. Aber ich sehe es auch als grundlegende Aufgabe meiner eigenen Regierung – der deutschen – an, mich vor Übergriffen fremder Geheimdienste ebenso zu schützen wie vor ausufernden Ermittlungen des eigenen. Wir können doch nicht einfach so tun, als wäre es völlig ok, dass ein fremder Geheimdienst bei uns herumschnüffelt. Davor hat mich meine Regierung gefälligst zu bewahren!

Grundsätzlich möchte ich übrigens auch differenzieren zwischen Geheimdiensten und Internetkonzernen, die Rolf Weber hier mit Google gleichsetzt, eine Vereinfachung, die ich jetzt einfach mal so übernehme. Natürlich will Google erst einmal mit Werbung – und möglicherweise auch mit Geräten und Applikationen, die es uns verkauft – Geld verdienen. Das geht umso besser, je besser Google uns kennt. Ich bin mir immer noch unschlüssig, ob das so schlimm ist, wenn Google mir passende Werbung anzeigt. Frage mich aber, wo die Spontaneität bleibt, wenn mir, ganz bequem, tatsächlich das passendste Restaurant gleich vorgeschlagen wird, in dem ich zum tausendvierunddreißigsten Mal meine Tortellini mit Käse-Sahne-Soße essen kann. Vielleicht hätte ich lieber mal dieses afghanische Restaurant ausprobiert, ein kaum genießbares Essen hinuntergewürgt, aber wäre um eine Erfahrung reicher? Leider hat Google es mir nicht vorgeschlagen, weil es mich ja kennt. Filterblase nennt man so was: Nur noch das von der Welt wahrnehmen, was eh schon der eigenen Position entspricht. Bequem leben, sich nicht mit anderen auseinandersetzen. Aber das allein ist keine Bedrohung meines Lebens. Google kann mir maximal so gute Werbung präsentieren, dass ich mein Geld halt entsprechend einsetze. Es kann mich nicht meiner Freiheit berauben. Und es kann auch nur die Informationen verwenden, die ich ihm mehr oder weniger freiwillig gebe.

Geheimdienste dagegen können. Und tun. Sie halten ungeliebte Menschen stundenlang an Flughäfen fest. Sie nehmen nicht nur Menschen fest, sie schicken mal eben eine Drohne bei einer jemenitischen Hochzeitsgesellschaft zu Besuch, weil sie eine verdächtige Anhäufung von möglicherweise terroristischen Handysignalen entdecken. Ein falsch interpretiertes Muster führte hier zu 15 Toten.

Es ist eine vollkommen falsche Behauptung, dass Briefgeheimnis, Privatsphäre etc. “in der digitalen Sphäre keine Gültigkeit mehr besitzen.” Natürlich tun sie das. Sowohl hier bei uns wie auch in den USA. Diese Rechte beschreiben Schutzrechte des Bürgers vor der eigenen Staatsgewalt. Was veranlasst Frau Zeh zu der Behauptung, dass diese Rechte in der digitalen Welt plötzlich keine Gültigkeit mehr haben sollten? Niemand darf in Deutschland einfach so fremde Emails abfangen. Genausowenig wie in den USA. Auch Geheimdienste nicht.

Es stimmt in der Theorie, dass auch die NSA an rechtliche Vorgaben gebunden ist. Nur: Sie ist nicht an deutsche Vorgaben gebunden, sondern an US-amerikanische, die viel laxer sind als unsere deutschen und außerdem im Ausland eh keine Anwendung finden. Und selbst im US-Inland, so ist mein Empfinden, schert sie sich nur minimal um diese Vorgaben. Das allerdings ist mein Empfinden, keine beweisbare Tatsache. Wie sollte ich das auch beweisen können. Dass aber die NSA in Deutschland im Rahmen deutscher Schutzrechte (Briefgeheimnis und all das) ermittelt, halte ich doch für eine recht naive Annahme, lieber Rolf Weber. Diese Rechte zu schützen, ist selbst ohne NSA eine Mammutaufgabe unserer Zeit. Die Kontrolle der Geheimdienste fehlt. Oder zumindest wird sie nicht glaubhaft genug deutlich gemacht.

Den nächsten Absatz von Rolf Webers Entgegnung verstehe ich, offen gesagt, überhaupt nicht. Er behauptet dort, Algorithmen, die unser ganzes digitales Leben analysieren, seien einfach nicht möglich. Ich denke: Google beweist genau das Gegenteil. Und wenn die NSA nicht selbst Algorithmen entwickelt hat, um ihre riesigen Datenmengen nach bestimmten Gesichtspunkten zu durchforsten, können sie eigentlich gleich einpacken. Da sehe ich schon das größere Problem darin – in dem Punkt stimme ich Rolf Weber zu – dass diese Algorithmen nicht wirklich zuverlässig arbeiten. Siehe die Hochzeitsgesellschaft in Jemen.

Noch einen anderen, sehr gefährlichen Punkt sehe ich in dieser ganzen Datensammelei: Wir wissen nicht, wie unsere Welt in zehn Jahren aussieht. Was heute ganz selbstverständlich ist, kann morgen eine lebensgefährliche Position sein. Niemand kann uns garantieren, dass wir ein Leben lang in einem Rechtsstaat leben werden. Beispiel gefällig? Die Niederlande hatten in der Nazizeit mit die höchste – hm – „Effektivität“ bei der Judenverfolgung. Warum? Weil es einige Zeit vorher eine komplette Volkszählung gegeben hatte, in der unter anderem das völlig harmlos wirkende Merkmal „Religionszugehörigkeit“ abgefragt wurde. 

Heute gibt es in Deutschland manche antichristliche Strömung. Vielleicht wird es irgendwann gefährlich, sich einmal als Christ oder Christin geoutet zu haben? Wer kann das schon sagen. Vielleicht wird auch manche Äußerung, die heute als selbstverständlich gilt, irgendwann strafbar? Ähnlich wie es früher üblich war, Kinder zu schlagen, heute aber verboten? Ich könnte noch andere Beispiele nennen, in denen sich die öffentliche Meinung völlig geändert hat, möchte aber bewusst diese Themenkreise hier nicht einmal andeuten, da es um etwas ganz anderes geht.

Darum geht es: Wie viel Freiheit und Anonymität brauchen wir? Wie viel davon können wir überhaupt noch gewährleisten? Brauchen wir Überwachung, wenn ja, in welcher Form? Was tun wir dafür, unser Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu schützen, und was tut unsere Regierung dafür?

Ich sehe durchaus die Möglichkeit, dass unsere angeblich so freie und demokratische Gesellschaft in einen totalitären Überwachungsstaat abrutscht. In was für einer Welt wollen wir leben?

Ich glaube: Wir brauchen eine viel stärkere, transparenter gestaltete Überwachung. Derjenigen, die uns überwachen wollen. Damit sie nicht unsere Freiheit einschränken aus lauter Übereifer.

 

Comments