Jesus und das Geheimnis der Gottesknechtslieder

Predigt am 1. Sonntag nach Epiphanias 2014
St. Salvator/St. Johannis, 12.1.2014

Text: Jes 42, 1-5 Siehe, das ist mein Knecht - ich halte ihn - und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. 2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. 4 Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

Liebe Gemeinde!
Unser heutiger Predigttext ist einer der geheimnisvollsten der ganzen Bibel. Genauer gesagt, einer von vieren. Die so genannten Gottesknechtslieder beim Propheten Jesaja sind der alttestamentlichen Forschung nach wie vor ein Rätsel.

Einig sind sich eigentlich fast alle, dass es vier solche Gottesknechtslieder im Propheten Jesaja gibt, dass sie sich vom Rest des Buches deutlich unterscheiden und dass es sich um hebräische Poesie handelt, was sowieso nochmal ein Thema für sich ist.

Aber das war's dann auch schon. Wer hat diese Lieder geschrieben? Für wen? Und wer ist dieser „Knecht Gottes“, von dem hier die Rede ist?
Die meisten Forscher sind sich heute einig, dass die Jesaja-Kapitel 40 bis 55 nicht von Jesaja stammen, sondern von einer oder mehreren anderen Personen, vielleicht Schülern des Propheten. Der sogenannte zweite Jesaja oder Deuterojesaja. Und dann, ab Kapitel 56, sogar noch ein dritter. Eine ziemlich komplizierte Geschichte, mit der ich Sie nicht langweilen will, aber uns muss einfach klar sein: Wer jetzt genau diese vier Gottesknechtslieder geschrieben hat, das können wir nicht mehr herausfinden. Der echte Jesaja war's wohl eher nicht.
Vielleicht können wir aber wenigstens erfahren, wer dieser Gottesknecht sein soll, von dem in diesen vier Liedern die Rede ist? Meint sich der zweite Jesaja vielleicht selbst damit, hat er als Prophet Gottes viel leiden müssen? Meint er das ganze Volk Israel damit, das auch an anderen Stellen im Alten Testament als „Knecht Gottes“ bezeichnet wird? Oder geht es um noch eine andere Person?

Eine naheliegende Deutung aus heutiger Sicht ist sicher: Es handelt sich um eine Prophezeiung auf Jesus hin. Jesus, der Knecht Gottes schlechthin. Im letzten der vier Lieder heißt es dann noch

„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.“ (Jes 53, 4f)

oder

„7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“.

Eigentlich fast schon logisch, dass wir Christen sofort an Jesus denken, den, der stellvertretend für uns gestorben ist. Sogar in unserer Abendmahlsliturgie geht es um das stellvertretende Leiden und Sterben:

„Nehmt hin und trinkt, das ist mein Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden“.

Möglicherweise hat sogar Jesus selbst sich als der Gottesknecht gesehen, der hier von Jesaja beschrieben wurde. Der, der stellvertretend für alle leiden und sterben wird. Und doch gibt es nur wenige Stellen im Neuen Testament, in denen das auch nur angedeutet wird. Vielleicht, weil Jesus dieses Geheimnis nur seinen Jüngern anvertraut hat? Der Theologe Jörg Jeremias hat es so beschrieben:

„Nur seinen Jüngern hat der das Geheimnis enthüllt, dass er die Erfüllung von Jesaja 53 als die ihm von Gott gestellte Aufgabe ansah, und ihnen hat er seinen Tod als stellvertretendes Sterben für die ungezählte Schar [...] der dem Gerichte Gottes Verfallenen gedeutet (Mk 10,45; 14,24). Weil er unschuldig, freiwillig, geduldig und nach Gottes Willen in den Tod geht (js 53), hat sein Sterben so grenzenlos sühnende Kraft. Es ist Leben aus Gott und mit Gott, das er hingibt.“ (J. Jeremias, ThWNT Bd. 5, 1954, S. 713)

Auch der heutige Sonntag, an dem dies nun der Predigttext ist, legt diesen Zusammenhang zwischen Jesus und dem Gottesknecht nahe. „Siehe, das ist mein Knecht, (...) an dem meine Seele Wohlgefallen hat.“ So beginnt unser Text. Fast wörtlich haben wir es im Evangelium von der Taufe Jesu gehört: „ Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“

Jesus – der Knecht Gottes, der schon von Jesaja angekündigt wurde? Unser Verstand sagt erst mal nein, Jesaja konnte doch davon gar nichts wissen, der lebte grob gesagt 500 Jahre vor Jesus, zur Zeit des babylonischen Exils.

Einer der geheimnisvollsten Texte der ganzen Bibel, habe ich gesagt. Und auch ich werde heute wohl kaum diese Geheimnisse lüften können. Im Studium habe ich eine fast 50seitige Seminararbeit dazu geschrieben und doch nur an der Oberfläche gekratzt. Damals bin ich zu dem Schluss gekommen: Dieser Deuterojesaja hat diese Texte eigentlich nur für sich selbst geschrieben, um sich über seine eigene Aufgabe klar zu werden. Aber auch, wenn er wahrscheinlich sich selbst meinte – ist es denn auszuschließen, dass Gott sozusagen jemand anderen dabei im Blick hatte? Können wir heute mit diesem geheimnisvollen Text das Leiden und Sterben Jesu deuten? Ich denke, es ist an der Zeit, uns unseren Predigttext nochmal ins Gedächtnis zu holen.

Text: Jes 42, 1-5
Siehe, das ist mein Knecht - ich halte ihn -
mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.
Ich habe ihm meinen Geist gegeben;
er wird das Recht unter die Heiden bringen.
2 Er wird nicht schreien noch rufen,
und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen.
3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,
und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
In Treue trägt er das Recht hinaus.
4 Er wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen,
bis er auf Erden das Recht aufrichte;
und die Inseln warten auf seine Weisung.

Ein geheimnisvoller Text. Selbst, was dieser Knecht Gottes tut, ist nur in der Verneinung beschrieben: Er wird nicht schreien noch rufen. Er wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen.

Nur ein Wort kommt immer wieder vor: Recht! Um diesen Begriff dreht sich das ganze Lied. Eher könnte man vielleicht sagen: Rechtsspruch, ja sogar Versöhnung. Gemeint ist: Wenn zwei Menschen im Streit miteinander liegen, und das gar nicht unbedingt vor Gericht, dann greift ein Dritter ein und bringt das gestörte Verhältnis zwischen ihnen wieder ins Gleichgewicht. Versöhnung und Frieden, Schalom, das steht hinter diesem Wort „Recht“. Unser Gottesknecht, wer auch immer es ist: Er bringt das Recht Gottes in die Welt. Er verkündet der Welt Versöhnung und Frieden. Vorhin haben wir es gesungen: „Jesus ist kommen, ein Opfer für Sünden“. Und „Jesus ist kommen, die Quelle der Gnaden“. Ich glaube, wir können gar nicht anders, als diesen Text als eine Prophezeiung auf Jesus hin zu verstehen. Und wenn ich gleich den Text nochmal lesen werden, werde ich das Wort „Recht“ durch „Versöhnung“ ersetzen.

Jesus als der Knecht Gottes, so können wir es vielleicht deuten. Oder ist da noch mehr? Was geht uns dieser Text eigentlich an? Könnte er auch für uns selbst gelten? Sind wir, als Menschen, die Jesus nachfolgen, dann nicht auch automatisch „Knechte Gottes“? Und dieses Wort „Knecht“, das ist ja im Hebräischen auch nichts Abwertendes, sondern eher etwas Gutes. Da gibt es einen Ort, an dem ich aufgehoben und geborgen, ja zu Hause bin. Ich gehöre dazu. Ich bin geborgen.

Wie könnte eine Welt aussehen, in der wir alle das ernst nehmen, was hier über diesen Knecht steht? Wie könnte eine Welt aussehen, in der alle, die an Jesus glauben, nur dieses eine Ziel im Kopf haben: Gottes Recht in die Welt zu bringen. Ein Recht, das nicht straft, sondern versöhnt. Ein Recht, das Frieden und Versöhnung bringt.

Ein geheimnisvoller Text. Voller Anspielungen. Voller Rätsel. Was, wenn Jesaja – oder wer auch immer diesen Text geschrieben hat – uns gemeint hat? Genau Sie und mich? Auch wir sind getauft wie Jesus. Siehe, das ist mein geliebtes Kind! - das hat Gott auch zu uns gesprochen. Und uns den Auftrag gegeben, Versöhnung in die Welt zu bringen. Und nun: Siehe, das ist mein Knecht! Was für ein Text. Für Sie. Für mich. Am liebsten würde ich Sie alle nach vorne holen und jedem einzeln das nochmal vorlesen. Aber es geht auch einfacher. Machen Sie die Augen zu und hören Sie Gottes Wort noch einmal. Ganz persönlich für Sie. Das Geheimnis des Gottesknechtslieds, jedenfalls für heute, ist: Sie selbst sind gemeint. Sie sind es. Hören Sie Gottes Wort für Sie:

Siehe, du bist mein Knecht - ich halte dich -
ich habe dich auserwählt, meine Seele hat Wohlgefallen an dir.
Ich habe dir meinen Geist gegeben;
du wirst Versöhnung zu den Völkern bringen.
2 Du wirst nicht schreien noch rufen,
und deine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen.
3 Das geknickte Rohr wirst du nicht zerbrechen,
und den glimmenden Docht wirst du nicht auslöschen.
In Treue trägst du Versöhnung hinaus.
4 Du wirst nicht verlöschen und nicht zerbrechen,
bis du auf Erden Versöhnung aufrichtest;
und die Inseln warten auf deine Weisung.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.