Predigtslam: Hier stehe ich, ich kann nicht anders

erster Platz beim 3. Preacher Poetry Slam in der Erlöserkirche Bamberg

Schweinfurt-Roßmarkt, 13:20, Bus 82. Kurz nach Schulschluss. Quetsche mich mit rein. Hinten alles voll. „Durchgehen bitte!“ ruft der Busfahrer. Ja Scherzkeks, wohin denn?

Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Nein wirklich, weiter geht’s nicht. Keinen Millimeter.

Komplett coronaunkonform und unkomfortabel kommen wir doch noch fort vom Startort. Sechs Fünftklässler im Vierersitz, drei turnen krakeelend auf den zwei Bänken, spucken einem älteren Herrn unbemerkt auf den kahlen Kopf. Die Oberstufler verdrehen altklug die Augen. Die lieben Kleinen, jaja. Wir waren doch auch mal so.

Ein schmächtiger Schüler stellt stur die Schultasche auf den Sitz neben sich. Still und stumm schaut er angestrengt zur Scheibe raus, bloß nicht ansprechen lassen, doch die Tasche schreit uns ohne Worte an: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Und will auch nicht! Komm bloß nicht auf die Idee, dich da hin setzen zu wollen!“ Ausnahmslos alle akzeptieren das. Alle Achtung.

Eine ältere Dame steht völlig unbewegt im wackeligen Übergang zum hinteren Teil des Gelenkbusses, hält sich nur mit einer Hand fest, in der anderen ein Buch. Hier steht sie, das kann sie. Jahrelange Übung vermutlich.

Zwei Mädchen, etwa 9. Klasse: „Mann, die Reli-Abfrage heute! Luther in Worms! Ich war völlig blank! Ich stand da vorne, ich konnte ja nicht anders. Am liebsten wäre ich weggerannt und hätte geheult. Voll die Note versaut, ey.“
Im Sitz gegenüber macht sich einer breit mit seinem Kumpel. Die Blicke gehen zu dem anderen der zwei Mädchen, syrisch vielleicht. „Asyltouristin“ höre ich und „wär se mal ersoffen“. Oh Leute. Sie ist jetzt hier, konnte nicht anders, bin ich sicher. Soll ich was sagen? Weiß nicht. Hier stehe ich. Bleibe stumm.

Der Busfahrer hat bodenlos schlechte Laune. Brettert bedenklich um Biegungen, bremst, beschleunigt blindwütig den Bus wie blöd und bekloppt. Hier fallen wir, wir können nicht anders. Nur die alte Dame steht und liest völlig unberührt.
Hochgerappelt, neu sortiert, blicke ich zwei Mädels über die Schulter. Sie schicken lauter Herzchen und Sticker über Whatsapp. Und schwärmen von Stefan. Das sehe ich, ich kann nicht anders, sorry.

Vollbremsung. Haltestelle. Ein Kinderwagen soll mit rein. Tetris mit Menschen, Kinderwagen, Büchertaschen. Irgendwie geht’s. Jesu größtes Wunder, die wundersame Platzvermehrung, steht nur im apokryphen Stadtbus-Evangelium. Und im 82er, mittags um halb zwei.

Auf dem Sitz neben meinem aktuell neu errappelten wackligen Halbstandplatz meidet jemand mutwillig die mandatorische Maskenpflicht mittels Mampfens mitgebrachten Munsterkäsebrotes, Marke stinkt echt eklig. Ich rieche es, ich kann nicht anders. Malignes Maulen mäandert durch die mühsam stehende missmutige Mitfahrermasse. Mahlzeit.

Das Pärchen dahinter stört es nicht. Die leben in ihrer eigenen kleinen Welt, Hand in Hand, Arm in Arm, Kuss an Kuss, sie können nicht anders. Mitten im Trubel, bei Tetris und Vollbremsungen und Käsegestank eine Insel der Ruhe, der Liebe, der Zweisamkeit. Vollbremsung!

Sennfeld-Gochsheimer Höhe. Ein paar wollen raus. Ausgerechnet die, die zwischen Kinderwagen und Büchertaschen eingeklemmt sind. Und die Spuckjungs von vorhin, die hatte ich ganz aus den Augen verloren. Sagen zum Abschied noch „Sie haben da was auf dem Kopf!“

Tetris, Tritte, Tohuwabohu. Oh toll: Totale Tragödie: Türe tot! Total tefekt! (Total tefekt. Ja, wir sind in Franken, da geht so ne Allidderation).

Da steht der Busfahrer, er kann nicht anders. Drückt hektisch Knöpfe, Tür macht lakonisch pffft. Endlich klappts, und Abfahrt, schon plus sieben Minuten, diesmal knapp ohne Umfallen, wir sind gewappnet.

Der Stefan-Fanclub hat sich inzwischen zu dem schmächtigen Schüler mit der Tasche vorgeschoben und selbige selbstbewusst vom Sitz geschubst. Ein Mädchen sitzt, die andere steht daneben, beide schmachten ihn an. Scheint, dass er Stefan heißt. Offensichtlich weiß er nicht, wie er mit der Situation umgehen soll. Ihm wäre seine Schultasche lieber, die gab ihm Sicherheit.

Vollbremsung. Nächste Station. Das syrische Mädchen steigt aus. Die zwei Sprücheklopfer schauen ihr stumm und sehnsüchtig hinterher, ich glaub, sie mögen sie, aber die Sprüche von zu Hause sind stark, sehr stark, sie können nicht anders. Noch nicht? Irgendwann mal? Wie schön wäre das. Vielleicht ist Liebe stärker als der Hass.

Auch Stefan verlässt das Geschehen. Sein Fanclub schleppt strahlend seine Tasche. So schön.

Und Abfahrt! Noch drei Kreisverkehre, zwei scharfe Links- eine Rechtskurve, Vollbremsung, Abfahrt. Puh. Der Bus leert sich, ich stehe trotzdem, könnte jetzt auch anders, aber is ja auch blöd, hinsetzen für die letzte Minute. Überdies trotze ich stehend still dem irren Fahrstil. Die Lesedame, mein Idol, ist fort, ich halte die, haha, Stellung.

Linkskurve Vollbremsung. Ich steige aus. Eine Wolke von Dunst begleitet mich zur Tür hinaus, wabert noch ein wenig um mich herum. Der Geist des vollen Lebens auf engstem Raum in 15 Minuten. Mit Schweiß- und Käsenote, mit Spucke und Küsschen. Der ... Heilige Geist?

Ich liebe es, ich kann nicht anders. Bis morgen.