Predigt: Das Ziel liegt in der Stille

Text: Mk 1, 32-39
Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Und er half vielen Kranken, die mit mancherlei Gebrechen beladen waren, und trieb viele böse Geister aus und ließ die Geister nicht reden; denn sie kannten ihn.
Und am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort. Simon aber und die bei ihm waren, eilten ihm nach. Und als sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich. Und er sprach zu ihnen: Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Städte, dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die bösen Geister aus.

Liebe Gemeinde!

Was für ein Aufruhr! Jesus ist da, und alle sind auf den Beinen. Die ganze Stadt kommt zu ihm. Sie brachten ihm alle Kranken und Besessenen. Überhaupt keine Frage. Dabei steht diese Erzählung ganz am Anfang des Markusevangeliums. Kapitel 1. So bekannt kann der doch noch gar nicht gewesen sein.

Mag sein, dass Markus da ein kleines bisschen übertrieben hat. Aber irgendwie ist das doch eine wirklich schöne Vorstellung. Wie wäre das, wenn es bei uns so wäre? Vielleicht noch an Weihnachten, ja, da wird die Kirche noch halbwegs voll. Passt ja auch, denn da feiern wir ja schließlich, dass Jesus zu uns kommt.

Aber sonst? Im normalen Gottesdienst? Ich kenne jetzt die Kreuzkirche nicht so genau, aber ich denke mal: Vor zwanzig, dreißig Jahren mag sie vielleicht auch nicht jeden Sonntag gerammelt voll gewesen sein, aber so wie jetzt?
„Die ganze Stadt war versammelt vor der Tür.“ So schreibt es Markus. Unser Traum von Gemeinde. Alle sind da. Die Jugendkreise und Seniorenkreise haben Wartelisten, weil die Räume überfüllt sind. Jede Woche gibt es Taufen oder Neuaufnahmen in die Gemeinde. Jeden Sonntag sind mindestens zwei Gottesdienste nötig, um die Menge der Besucher zu fassen. Die ganze Stadt ist versammelt vor der Tür. Und kommt auch rein.

Tja. Schöner Traum, das ist klar. Und, ganz ehrlich: So war das seit Menschengedenken nicht. Der Liedvers „man höret immer deine Klage, dass nicht dein Haus will werden voll“ ist von 1711, das war also vor 200 Jahren nicht viel anders als heute.

Gemeindeaufbau, wie wir ihn gerne hätten. Die Leute rennen uns die Türe ein, so wie sie es bei Jesus getan haben.
Und was macht Jesus? Das ist wirklich spannend. Ja, er heilt die Kranken. Er predigt mit einer Vollmacht, wie sie selten zu erleben war. Die Bude ist voll. Jetzt müsste man den Moment nutzen, weiter aufbauen, Gemeinde bauen. Doch Jesus?

Am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort.

Ganz egal, wie viele Menschen da auch am zweiten Tag vor der Tür stehen: Jesus sucht erst einmal die Abgeschiedenheit. Die Ruhe. Das Gespräch mit Gott.

Er verfällt nicht in Hektik und Aktionismus. Er tut genau das Gegenteil. Er nimmt Abstand von dem ganzen Trubel. Er zieht sich für eine Weile aus der ganzen Sache heraus, um wieder klarer sehen zu können, was seine Aufgabe ist.
Und dann – tut er etwas, was vermutlich keiner erwartet hätte. 

Es wäre doch eigentlich so klar gewesen, was jetzt dran ist. Die ganze Stadt stand vor der Tür. Alle wollen was von Jesus. Was für eine Chance. Hier hätte er bleiben können. Hier hätte er eine Gemeinde aufbauen können. Hier hätte er der große Prediger des Ortes werden können, alt werden, alt und angesehen. Eines Tages wäre er im Kreise seiner Familie gestorben, und vielleicht hätte man sich noch ein, zwei Generationen lang an ihn erinnert. 
Doch Jesus: Er tritt einen Schritt zurück. Er sucht erst einmal die Ruhe und Abgeschiedenheit und das Gebet. Betrachtet die Sache sozusagen von außen – und besinnt sich darauf, was eigentlich seine Aufgabe ist:

Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Städte, dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. 

Vielleicht geht uns das auch manchmal so. In unserer Gemeindearbeit. Oder auch sonst. Im Beruf. In der Familie. Im Haushalt. Vor lauter Aktionismus, vor lauter wichtigen Aufgaben, die genau jetzt dran sind, vergessen wir, was wirklich wichtig ist. Verlieren wir unser Ziel aus den Augen.

Ehrlich gesagt: Es ist ja oft auch so viel einfacher. Einfach irgendwas tun statt sich auf die wichtigen Ziele zu besinnen. 

Wie könnte das aussehen? In einer Familie vielleicht so: Heute unternehmen wir was gemeinsam – egal, wenn die Wohnung mal nicht tiptop aufgeräumt und geputzt ist. Oder: Wir nehmen uns wirklich mal einen Abend Zeit, um gemeinsam darüber zu reden, was uns eigentlich als Familie wichtig ist. Und alles andere bleibt dann halt mal liegen.

Für die Arbeit ist es schwierig, Beispiele zu bringen. Denn dafür sind die Tätigkeiten zu unterschiedlich. Manche haben wenig Gestaltungsmöglichkeiten, andere sehr viele. Aber bei den meisten dürfte es sich lohnen, mal einen Schritt zurückzutreten und zu fragen: Was tue ich da eigentlich? Ist das meine Aufgabe? Bin ich für diese Dinge da? Oder wäre eigentlich etwas ganz anderes wichtig?

Das gleiche gilt natürlich auch für die Gemeinde und für uns als Kirche im Ganzen. Was ist uns wichtig? Was wollen wir erreichen? Sie hier in der Kreuzkirche sind jetzt gerade in einer schwierigen Situation durch die Vakanz. Da bleibt sowieso vieles liegen, was sonst selbstverständlich war. Sind da vielleicht auch Sachen dabei, die keiner vermisst, die nur noch getan wurden, weil es immer schon so war?

Als Gemeinde können Sie jetzt ein Stück zurücktreten, Ihr eigenes Gemeindeleben von außen betrachten. Fragen: Was ist unser Ziel? Was wollen wir eigentlich? 

Vielleicht haben Sie auch schon von unserem bayernweiten Prozess gehört. „Profil und Konzentration“ heißt er, kurz: PuK. Eigentlich sollte es mal ein Sparkonzept werden. Sprich: Eine Liste, was jetzt wirklich mal weg gehört. Wo Stellen und Gelder gestrichen werden können, denn wir werden nicht so weitermachen können wie bisher. Selbst, wenn wir alles beim alten beließen, wären demnächst etwa ein Drittel aller Pfarrstellen unbesetzt, weil so viele in den Ruhestand gehen. Und die, die noch übrig sind, wären dann kurz vor dem Herzinfarkt, weil sie alle Vertretungen übernehmen müssen. Nein, das kann es nicht sein.

Darum: Einen Schritt zurückgehen. Unsere Arbeit anschauen. Und uns überlegen: Was ist uns wirklich wichtig? Was wollen wir erreichen? Und wie erreichen wir es am besten? Und dann erst, in einem zweiten Schritt, überlegen: Welche kirchlichen Strukturen brauchen wir dafür? Welche Möglichkeiten bieten sich?

Das einfachste Beispiel ist für mich immer die Konfirmandenarbeit. Die eine Gemeinde hat drei Konfis, die andere fünf. Beides ist eine Quälerei, für die Konfis und die Pfarrer. Warum nicht eine schöne Gruppe mit acht Konfis bilden? Und ein Pfarrer, eine Pfarrerin hat auf einmal Luft für andere Dinge. 

Einen Schritt zurücktreten, die Dinge von außen betrachten. Vielleicht stellen wir dann fest: Es sind ganz, ganz andere Dinge dran. Denn mit dem, was wir als Gemeinden so tun, erreichen wir ja doch nur einen ganz kleinen Teil unserer Gemeindeglieder. Und ich glaube, den Traum, dass die uns die Bude einrennen, wenn wir nur richtig tolle Angebote machen – den können wir auch ganz schnell wieder vergessen.

Stattdessen: Einen Schritt zurücktreten. Und einfach mal schauen: Was brauchen die Menschen denn? Die Menschen hier in Oberndorf. Wie ticken sie? Wo treffen sie sich? Was wollen sie? Da müssen wir hingehen. Das ist in meinen Augen Mission. Nicht, um die Menschen „da abzuholen, wo sie sind“, wie das immer so schön gesagt wurde. Sondern um dort zu sein und zu bleiben, wo sie eben sind. Wirklich mit den Menschen zu leben. Vielleicht gibt‘s dann Gespräche über Gott und die Welt in einer Kneipe. Oder Weihnachtsliedersingen im Stadion. Oder eine Zwei-Minuten-Andacht in der Fußgängerzone. Oder oder oder … 

Ja, ich höre Ihre Einwände regelrecht in meinem Kopf. „Und was ist mit uns? Was wird aus den Dingen, die für uns wichtig sind?“ Das wird die Kunst sein, die in den nächsten Jahren gefragt ist: Die wirklich wichtigen Dinge in unseren Gemeinden zu erhalten. Zu entscheiden, was wichtig ist, was vielleicht mit den Nachbarn zusammen besser erreicht werden kann, und auch: Was dann mal beendet werden kann. Da kommt eine schwere Aufgabe auf uns zu. „Profil und Konzentration“ heißt der Prozess. Am Anfang steht: Das Profil. Also: Was wollen wir?

Es hilft vielleicht, einmal einen Schritt zurückzutreten. Die Ruhe zu suchen. Das Gebet. Im Gebet unseren Auftrag als Gemeinde neu zu entdecken. Und dann mutig nach vorn zu blicken. Vielleicht sagen wir dann: Ja, es läuft gut so, wie es gerade ist. Vielleicht sagen wir aber auch, wie Jesus: Lasst uns anderswohin gehen. Dahin, wo die Menschen sind. 

Gott gebe uns dazu die nötige Ruhe, Weisheit und gute Entscheidungen. Egal, ob in der Familie, im Beruf, oder in der Gemeinde. Amen.
 
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.