Predigt am Sonntag Septuagesimae: Barmherzig leben

Christuskirche Schweinfurt/Arche Dittelbrunn, 27.1.2013

Text: Mt 9, 9-13
Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum ißt euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): «Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.» Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Liebe Gemeinde!

Ach, die Geschichte kenn ich doch! Das ist doch die mit dem kleinen Zöllner, Zachäus, der auf einen Baum stieg und dann sein Leben geändert hat. Ungefähr so war meine erste Reaktion, als ich den Predigttext für heute zum ersten Mal kurz überflog.

Aber nein: Das ist sie ja gar nicht! Es geht hier nicht um den Zöllner Zachäus. Es geht möglicherweise überhaupt nicht um einen Zöllner, denn der Evangelist Matthäus schreibt nur: „Jesus sah einen Menschen am Zoll sitzen“. Ob der Zöllner war oder nur zufällig gerade da herumsaß – das wird gar nicht beschrieben. Nur das wissen wir von ihm: Jesus sagte „Folge mir!“ - und er folgte ihm nach. Ja, natürlich liegt es nahe, dass dieser Matthäus ein Zöllner war. Und dass Jesus, ähnlich wie bei der Geschichte von Zachäus, bei ihm eingekehrt ist. Aber sicher ist es in dieser Geschichte nicht. Denn der heutige Predigttext legt seinen Schwerpunkt ganz woanders. Heute geht es um diese durchaus wichtige Frage der Pharisäer: „Warum geht Jesus zu den Zöllnern und Sündern und nicht zu uns? Hätten wir es nicht viel mehr verdient? Ständig haben wir uns angestrengt, unser ganzes Leben dem Glauben und Gott gewidmet, und dann kommt dieser Wanderprediger daher und – lässt uns links liegen. Das kann doch nicht sein. Stattdessen geht er zu denen, die sich von Gott entfernt haben. Zu den Sündern. Zu den Zöllnern, die gemeinsame Sache mit den verhassten Römern machen.

Und der soll „Sohn Gottes“ sein? Oder der Messias? Oder der „Menschensohn“, wie er sich nach Worten der Propheten Daniel und Ezechiel selber nennt? Warum geht er dann zu denen und nicht zu uns? Das ist doch ungerecht! Genau so ungerecht wie in der Geschichte, die wir heute im Evangelium gehört haben. Wo alle Arbeiter das gleiche Geld gekriegt haben, obwohl einige den ganzen Tag geschuftet haben, andere nur eine Stunde.“

Ehrlich gesagt: Ich kann die Pharisäer irgendwie sogar verstehen. Stellen Sie sich vor, Jesus würde heute auf die Welt kommen. Wo würde er hingehen? Würde er hier bei uns im Gottesdienst sitzen? Bei denen, die mehr oder weniger regelmäßig da sind, versuchen, ihren Glauben irgendwie zu leben, die einen von uns wirklich überzeugt, manche vielleicht auch eher zweifelnd und auf der Suche?

Vielleicht würde er auch mal hier bei uns sitzen, ja. In der Synagoge war er ja auch, und mit den Pharisäern hat er auch geredet, oder besser gesagt: Meistens wohl eher gestritten.

Wenn es nach unserem heutigen Predigttext geht, würde er aber wohl eher bei den Pennern auf der Straße sein. Bei denen, die am Rand der Gesellschaft stehen, die keiner beachtet. Bei den „Zöllnern und Sündern“ unserer Tage.

Und wir? Bei mir selber stelle ich ja manchmal so eine leichte innere Schadenfreude fest, wenn's um die Pharisäer geht. „Ja ja, nach außen die großen Wichtigtuer, aber sie haben doch nichts verstanden“ - so ungefähr. Pharisäer ist ein Schimpfwort geworden. Und ein Synonym für „nur so tun als ob“, so wie dieser Kaffee mit Alkohol drin, falls Sie den kennen.

Aber – wenn wir mal ganz ehrlich sind: Sind nicht wir hier die Pharisäer von heute? Also erst einmal in einem positiven Sinn gemeint, nicht als Schimpfwort: Die, die ihren Glauben ernst nehmen und versuchen, danach zu leben. Die dabei manchmal auch an ihre Grenzen kommen, Fehler machen, Irrwege gehen, ganz so wie die Pharisäer damals. Und: Wären wir nicht auch pikiert, wenn Jesus nicht zu uns käme?

Ja, natürlich, wir tun doch eine Menge. Wir haben als Kirche die Diakonie. Wir spenden für Brot für die Welt. Christen betreiben so viele soziale Einrichtungen in Deutschland, dass unser Sozialstaat wahrscheinlich zusammenbrechen würde, wenn das alles plötzlich eingestellt werden würde.

Und wir, die wir hier sitzen, tragen jeweils auch persönlich unseren Teil dazu bei, durch Kirchensteuern, durch Gebete, durch ehrenamtliche Mitarbeit. Trotzdem – oder gerade deshalb: Jesus würde dann wohl nicht zu uns kommen. Sondern zu den anderen. Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Und dann sagt Jesus noch einen Satz, der mir sehr zu denken gibt: Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): «Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.»

Brandopfer und dergleichen haben wir heute natürlich nicht mehr, klar. Aber auch wir opfern – 50 Cent in den Klingelbeutel, mal ein paar Euro an eine Wohltätigkeitsorganisation, einen Euro für den Mann vom Zirkus, der an der Tür klingelt, vielleicht sogar mal einen größeren Betrag, wo uns ein Projekt wirklich wichtig und unterstützenswert erscheint. Diese ganzen Dinge, sie sind und sie bleiben wichtig, natürlich. Auch Jesus hat sich nicht grundsätzlich dagegen gestellt. Aber viel wichtiger ist das andere: Die Barmherzigkeit. Die menschliche Zuwendung. Die Liebe. Besonders auch zu denen, die am Rand stehen.

Leider ist das ja nicht immer so einfach. Wo wird meine Zuwendung wirklich gebraucht? Ist es gut, wenn ich mich neben den Bettler am Straßenrand setze und mich mit ihm unterhalte – oder macht ihm das vielleicht sogar Angst, weil er es nicht gewohnt ist? Vielleicht ergeben sich sogar ganz überraschende Dinge. Ich musste an eine junge Frau denken, die mich in meiner Studienzeit mal am Kölner Hauptbahnhof angesprochen hat. „Meine Mitfahrgelegenheit nach Berlin ist nicht gekommen, ich brauche dringend Geld für ein Zugticket.“ Ich hab ihr die letzten Pfennige gegeben, die ich noch im Geldbeutel hatte.

Zwei Tage später kam sie mit der gleichen Geschichte wieder an und guckte sehr betreten, als ich sie darauf ansprach. Und dann meinte sie: Die Leute wollen eine einfache Geschichte. Meine ist viel zu kompliziert, da kriege ich kein Geld für. Ob sie mir dann die Wahrheit erzählt hat? Wenn ja, kann ich's verstehen, dass sie mich zuerst angelogen hat. In Not war sie jedenfalls. Also – helfen, auch wenn man angelogen wird? Auch auf die Gefahr hin, ausgenutzt zu werden?

Wo wird meine Zuwendung wirklich gebraucht? Wie finde ich die einsamen Menschen, die sich schon so zurückgezogen haben, dass keiner sie mehr sieht? Was heißt denn barmherzig leben heute, wie geht das?

Vielleicht ist es ja auch schon genug, wenn wir einfach mit offenen Augen und barmherzigem Blick die Welt um uns herum betrachten. Ohne Vorurteile auf die anderen zugehen. Sie als Menschen ansehen. Mir fällt noch ein anderes Wort ein, das fast genau so klingt: Warmherzig. Barmherzig und warmherzig leben. Das ist es, was Jesus uns vorgemacht hat. Das ist es, wie wir als Christen überzeugend leben können. Einfach ist es nicht. Aber unsere Welt hat's nötig. Gott gebe uns die Kraft und die Ideen dazu. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Comments

Was mich an dem Text am meisten bewegt hat: Da ist einer, dem es nach weltlichen Maßstäben gut geht. Er hat den Zoll gepachtet, verdient gut, muss nicht bei Wind und Wetter raus, und auch wenn die Gesellschaft ihn ausschließt hat er doch viele Kontakte, die plötzlich schnell zum Essen bei ihm auftauchen.

Da kommt Jesus und sagt: Folge mir! 

Und genau das tut er - lässt das gewohnte, sichere Leben hinter sich. Keine stundenlange Diskussion, kein Grübeln, er folgt Jesus einfach nach.

Reagiere ich ähnlich? Wie würden andere reagieren? Für Jesu Nachfolge einfach das gewohnte Leben aufgeben? Oder wie viel würden wir aufgeben?