Predigtslam: von oben
2. Böblinger Predigtslam: "von oben" am 13.10.2019
ein Slam mit viel o
Von oben ronn der Tod in meine Wohnung. Not, Trauer, Trotz. Anna war tot. Die Sonne unseres Wohnblocks. Die wundervolle, hinreißende, fröhliche, herzensgute, immer freundliche Anna.
Nur 35 Jahre war sie geworden, und nun tropfte der Tod von oben unaufhaltsam durch alle Ritzen und Löcher aus ihrer Wohnung nach unten zu mir.
Unter die Stühle und Tische, unters Bett, in den Herd, in alle Spalten, alle Falten, konnte schalten und walten, war nicht aufzuhalten, ließ die Wohnung erkalten, kroch in mich hinein, in die Adern, den Magen, die Lunge, die Nieren, die Seele. Flüsterte mir zu: „Es ist sinnlos! Am Ende stehe ich, der Tod! Gott? Den gibt‘s nicht. Nie gesehen. Nie hier gewesen. Ich bin der Tod.“
Warum sie? Ihr Lachen, ihre Stimme im Treppenhaus, die lustigen Aufkleber, die sie überall verteilte. Alles leer, alles tot, verloren. Zorn. Trotz. Wo bist du, Gott? Wo? Warum? Nahmst dem Wohnblock die Sonne.
Auch Ono von ganz oben, der stoische, besonnene, echt adelige Ono von Oberdorf zog ernst und still im Treppenhaus an mir vorbei. Selbst sein Mops bellte nicht mehr so oft.
Nach einem Monat zog ein neuer in die Wohnung. Bohren, Möbel rücken, neue Geräusche. Dann traf ich ihn draußen vor der Tür.
„Hi, ich bin Ben!“
„Heiko. Hallo. Und wie weiter?“
„Ben Fono“.
Nicht dein Ernst. Also der Fono-Ben von oben?
He, mach mal keine Witze über Namen! Was steht da auf deinem Klingelschild?
Ähm, Kuschel.
Na siehste! Also sei mal schön ruhig. Aber was guckst du denn so traurig?
Deine Vormieterin. Anna. Sie ist gestorben. Mit 35. Wir haben sie alle sehr gemocht.
Oh. Tut mir Leid. Aber so ist das. Irgendwann ist das Leben zu Ende.
Ich würde gerne glauben, dass es weitergeht. Aber warum macht Gott so was? Warum lässt er einen so wunderbaren Menschen einfach sterben?
Und du meinst echt, wenn es Gott gibt, dann wird er einfach so von oben herab alles korrigieren, was bei uns so falsch läuft?
Er hätte ja wenigstens mal ne Ausnahme machen können.
Nee nee, vergiss das mal. Gott? Den gibt es nicht. Meinst du wirklich, es könnte einen geben? So sehr, wie die ganze Welt daneben läuft. Schau dir das doch an! Diese Anna war doch nicht die einzige. All diese Kriege. Der Holocaust. Die Millionen, die überall fliehen, und Tausende verrecken im Mittelmeer. Und die Erde bebauen und bewahren sollen wir? Nichts wars. Die Klimakatastrophe kommt, und keiner rettet uns. Schon gar nicht dein Gott. Was soll er auch machen? Von oben eingreifen? Euch zwingen, anders zu handeln? Soll er euch zur Krebsvorsorge tragen, die Waffen zerstören und die Kohlekraftwerke? Nee du. Gott gibt‘s nicht. Oder wenn, dann tut er nichts, und dann kann er mir auch gestohlen bleiben.
Da waren sie wieder, die Zweifel. Gibt es Gott? Fono-Ben sprach meine Zweifel aus. Wieder kroch er in mich hinein, der Tod. Kroch in mich hinein, in die Adern, den Magen, die Lunge, die Nieren, die Seele. Flüsterte mir zu: „Es ist sinnlos! Am Ende stehe ich, der Tod! Gott? Den gibt‘s nicht. Nie gesehen. Nie hier gewesen. Ich bin der Tod.“
Auf einmal macht es Platsch. Ono von Oberdorf von ganz oben goss sein Dreckwasser Fono-Ben von oben von oben auf den Kopf. Die Soße tropfte und troff von Fono-Bens Kopf von oben auf den Boden und roch abstoßend.
„Ono! Idiot! Was machst du da! Pass doch auf!“
„Oh no! Sorry! Mein Mops hat gekotzt.“
Onos Mops kotzt oft.
Fono-Ben schaut tropfend von oben auf die stinkende Drecklache. „Siehste, so ist das alles. Alles nur rausgekotzt. So ist das Leben.“
Gerne würde ich was Positives sagen, doch der Tod steckt noch in meinen Knochen. Kein Ton verlässt meinen Mund. Von ganz oben blickt betroffen Ono von Oberdorf auf den Dreck.
Von oben blicken auch Fono-Ben und ich auf die Lache am Boden.
Umwoben von Dreck, verschoben sich die Elemente, woben sich tobend, verschoben sich Kontinente, hoben sich Gebirge, geheimnisumwoben sahen wir – den Globus von oben.
Die brennenden Wälder in Brasilien und Sibirien. Die sterbenden Korallen. Die Ölpest in Brasilien. Die schmelzenden Gletscher. Die Millionen Menschen auf der Flucht. Das Schlauchboot auf dem Mittelmeer. Die Erfrorenen auf der Straße, bei uns in Deutschland. Und, ja, auch Anna. Den Krebs. Die Trauer. Ihre verunglückte Tochter, ich hatte nichts davon geahnt, drei Jahre war sie alt geworden. Ihre stumme Verzweiflung, übertüncht durch die Fröhlichkeit. Die ganze Welt voll Trauer in einer Dreckwasserlache, und wir blickten von oben darauf.
Das Wasser floss davon. Von oben floss es die Stufen hinab, in den Keller, wir hinterher, es sammelte sich am tiefsten Punkt. Das ganze Leid der Welt sammelte sich von oben zu einem bodenlosen See in der Tiefe unseres Kellers. Hilflos blickten wir hinab, konnten den Blick nicht wenden wie die Gaffer am Straßenrand. Sahen Juden sterben und Hexen, Kinder schreien vor Angst und Vögel verenden im Öl. Sahen die Toten in Halle und Christchurch, sahen Fukushima und Hiroshima, Auschwitz und Stalingrad. Gott, hör auf! Gott, lass das sein! Gott, wo bist du? Warum hast du uns verlassen?
Und dann sahen wir … IHN.
Mitten im See der Angst und Not.
Alle Not, alles Leid floss in ihn hinein, in die Adern, den Magen, die Lunge, die Nieren, die Seele. Flüsterte IHM zu: „Es ist sinnlos! Am Ende stehe ich, der Tod! Gott? Dich gibt‘s nicht. Nie gesehen. Nie hier gewesen. Ich bin der Tod.“
Doch er war da.
Er lebte.
Mitten im Leid.
Und mir war klar:
Das ist sein Ort.
Nicht von oben kommt Gott.
Hier, im Leid, am tiefsten Ort der Welt.
Nahm er sein Kreuz.
Blickte voller Liebe auf all das.
Und alles, alles Leid, alle Not, aller Tod, floss in ihn hinein, floss durch ihn hindurch, wurde gewandelt in Liebe.
Und er sprach: „Siehe, ich mache alles neu!“
So verändert er die Welt
von unten.
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