Ansprache beim MehrWegGottesdienst: Wer hat Angst vorm lieben Gott?

„Wer hat Angst vorm lieben Gott?“

Mein ganzes Pfarrerleben langt versuche ich, gegen diese Angst anzugehen.

So viele Menschen erlebe ich, die sie immer noch in sich tragen, die Angst.

Seit Jahrhunderten haben wir den Leuten gesagt: Gott sieht alles! Und er schreibt alle Sünden auf in sein großes Buch.

Wenn du als Kind nicht aufgegessen hast oder die Zunge rausgestreckt hast oder dein Zimmer nicht aufgeräumt hast – Gott sieht alles!

Ist ja so ein praktisches Erziehungsmittel.

Gott als verlängerter Arm der Eltern oder auch der Obrigkeit.

Wenn du nicht brav bist, dann ...

Und erst der Ablasshandel im Mittelalter! Was für eine Angst die Menschen damals hatten, in die Hölle zu kommen.
Was für eine Angst sie hatten vor einem strafenden, rachsüchtigen Gott.

Es war doch so praktisch.

Man konnte die Menschen klein und gefügig halten damit.

Man konnte die eigene Macht zementieren als Vertreter von Gott. Und da nehme ich die evangelische Kirche gar nicht aus.

Zum Kotzen.

Ganz ehrlich: geschieht uns als Kirche recht, wenn die Leute uns den Rücken kehren.

Dabei steht doch in der Bibel vermutlich kein Satz so häufig wie dieser:

„Fürchte dich nicht“.

Ob es die Hölle überhaupt gibt? Natürlich hat auch Jesus von dem Ort gesprochen, an dem Heulen und Zähneklappern sein wird. Aber – das war vor seiner Auferstehung. Hat Jesus die Hölle geschlossen?

Eine schwierige Frage, die wir heute in der MehrWegPhase gestellt haben: Was geschieht mit Menschen wie Hitler? Wie wird Gott mit ihnen umgehen? Wird er auch diesen Menschen, der Millionen Leben auf dem Gewissen hat, gnädig ansehen?

Ich bin froh, dass ich nicht Gott bin. Ich könnte nicht gnädig sein, glaube ich. Aber Gott?

Oder ist Hölle wieder mal etwas, das wir uns selbst antun? So, wie ja auch der erste Tod, von dem die Bibel berichtet, ein Mord war? Kain und Abel, sogar ein Brudermord.

Vielleicht kennt ihr die Geschichte, in der ein Mensch eine Führung durch Himmel und Hölle bekommt. Zuerst gehen sie in die Hölle. In der Mitte steht ein duftender Topf mit köstlichem Essen, doch die Leute außen rum sind abgemagert und verhärmt, denn ihre Löffel sind viel zu lang und sie kriegen das Essen nicht in ihren Mund. Wahrlich die Hölle. Da ist leckeres, duftendes Essen – und sie haben nichts davon.

Und dann gehen sie weiter, in einen anderen Raum. Das gleiche Bild: Ein dampfender Topf, die Leute mit viel zu langen Löffeln, aber alle sind glücklich und gut genährt. Denn mit ihren langen Löffeln haben sie sich einfach gegenseitig gefüttert.

Ein einfaches Bild, das aber doch tiefer geht, finde ich: Gott stellt uns quasi allen einen Topf voller Liebe und Leben hin. Ob wir daraus einen Himmel oder eine Hölle machen, hier auf der Erde oder später – das hängt zum Teil von uns ab. Aber auch von denen um uns herum. Nur, wenn wir aufeinander achten, kann das Leben gelingen.

Wer hat Angst vorm lieben Gott?

Immer noch viel zu viele.

In der Bibel lese ich so viel Mutmachendes, Aufbauendes. „Ich will dich aufrichten, stärken, gründen“. „Fürchte dich nicht.“ „Gott ist die Liebe“.

Und doch machen wir halt auch andere Erfahrungen. Fragen: Wie kann Gott das zulassen? Wo war Gott damals, als Hitler die Welt mit Krieg überzog? Wo ist er heute, angesichts des großen Kriegs nicht weit weg von uns? Wo ist er heute, da die ganze Schöpfung bedroht ist und wir es einfach nicht hinbekommen, weltweit genug dagegen zu unternehmen? Wo ist Gott heute, da so viele Menschen wie nie auf der Flucht sind und nirgends willkommen sind?

Leider macht Gott nicht immer das, was wir gerne hätten. Gott ist die Liebe, ja. Aber Gott ist kein Wesen, über das wir verfügen könnten. Gott ist Gott. Manchmal unverständlich. Manchmal rätselhaft. Manchmal zum Verzweifeln, so wie Jesus, der am Kreuz rief: „Warum hast du mich verlassen?“

Ich glaube, ich habe dieses Erlebnis hier schon mal erzählt. Während des Studiums habe ich abends manchmal nur eine Kerze angezündet und in diesem Licht in der Bibel gelesen. Und ich kam zu der Stelle aus Hebräer 10: „ Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ Bei diesem Satz musste ich husten, die Kerze erlosch und ich saß im Dunkeln da.

Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

Gott ist die Liebe?

Wirklich nur die Liebe?

Jedenfalls ist Gott kein Automatismus, der uns immer erfüllt, was wir gerne hätten.

Gott ist mehr.

Gott ist tiefer.

Gott ist unverständlich, unfassbar, manchmal sogar schrecklich.

Gott ist die Liebe.

Wenn ich ganz tief falle, wenn alles ganz schrecklich ist, dann sind da die Hände des lebendigen Gottes, dem ich doch vertrauen kann. Der mich hält, wenn es schrecklich ist.

Nur ein paar Sätze weiter im Text kommt dieser wunderbare Satz „Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat“.

Vertraue darauf: Selbst, wenn du Gott manchmal als unnahbar, als fern, sogar als schrecklich erlebst:

Gott ist da.

Gott ist die Liebe.

Wirf dein Vertrauen nicht weg.

Amen.