Predigt am Heiligen Abend 2020: Es ist ein Ros entsprungen

Text: Jes 11,1–10

1Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten.
5Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. 6Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinanderliegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. 8Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. 9Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.
10Und es wird geschehen zu der Zeit, dass das Reis aus der Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Heiden fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.

Es ist ein Ros entsprungen, so haben wir es vorhin gehört. Dieses wunderschöne Weihnachtslied, quasi eine Vertonung unseres heutigen Predigttextes. Geschrieben in einer Zeit, in der die Israeliten dachten: Bald ist es vorbei.

Der Prophet Jesaja kündigte es an, das Ende. Das Bablonische Exil, das dann ja auch kam. Der Baum wurde gefällt, da wuchs nichts mehr. Die Oberschicht verschleppt ins Babylonische Exil, der Rest weitgehend geflüchtet in die andere Richtung, nach Ägypten. Israel? Nur noch ein abgehauener Baumstumpf. Nichts mehr da. Keine Hoffnung mehr. Keine Zukunft mehr.

Wie so ein abgehauener Baumstumpf fühle auch ich mich in diesen Tagen oft. Nach diesem Corona-Jahr voller Einschränkungen, voller Sorgen, voller nicht mehr gültiger Selbstverständlichkeiten. Hätten wir uns das jemals träumen lassen, dass Geschäfte und Schulen schließen oder dass wir mit großem Abstand, mit Masken und ohne selbst zu singen hier draußen stehen würden am Heiligen Abend?

Ich brauche Ihnen nicht vorzujammern über dieses seltsame Jahr. Sie kennen das alles.

Wie so ein abgehauener Baumstumpf, so komm ich mir manchmal vor. Alles weg, was da so hoffnungsfroh in die Höhe wuchs. Alle Blätter weg, alle Äste. Erschöpfung, Sehnsucht nach Nähe, Angst vor der Zukunft. Müde, kraftlos, Stumpf eben.

Doch dann schreibt der Prophet von der Hoffnung, die über die Zerstörung Israles und Jerusalems hinausgeht. Er schreibt diesen Satz über den Baumstumpf:

Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.

Es ist ein Ros entsprungen. Ja, natürlich, Jesaja meint: Das Volk Israel, das ist noch nicht am Ende. Der „Stamm Isais“, das meint die Nachkommen des Isai (oder Jesse), des Vaters von König David.

Es ist ein Ros entsprungen. Jesaja malt eine wundervolle Zukunft für das Volk Israel, ach was, für alle Menschen auf der ganzen Welt. Keinen Streit wird es mehr geben, keine Enttäuschung, keine Erschöpfung, keine Krankheit mehr. Keine Angst. Dieser kleine, frische Trieb aus dem abgehauenen Stumpf – er wird zum Herrscher werden. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn. Er wird den Frieden bringen und die Gerechtigkeit. Er wird alle miteinander versöhnen, sogar Kälber und junge Löwen oder den Säugling mit der Natter. Das muss dann wohl der Himmel sein.

Es ist ein Ros entsprungen? Heute, hier, am Ende dieses irgendwie abgehauenen Stumpf-Jahres stehen wir am Plan, auf Abstand, mit Masken. Heute, hier, hören wir diese Botschaft: Es ist ein Ros entsprungen. Er ist da. Er, der kleine, frische Trieb. Klein und unscheinbar scheint er zu sein. Als kleines Baby kommt er in die Welt, in einer Krippe liegt er – und verändert doch die Welt. So, wie das schwache Licht unserer Kerzen die Umgebung erhellt – so macht dieses Kind in der Krippe die Welt ein wenig heller.

Wir Menschen sind ungeduldig. 2000 Jahre ist das nun her. Wann kommt es denn endlich, dieses Friedensreich? Wann wächst es endlich? Ich glaube, es ist schon da. Hier, bei uns. Da, wo wir aufeinander achtgeben. Da, wo wir schweren Herzens Abstand halten, um einander nicht zu gefährden in diesen Tagen. Da, wo die Nachbarin mal nachfragt, wie’s einem geht, und nicht nur eine Floskel als Antwort bekommt. Da, wo wir es schaffen, trotz Masken ein Lächeln zu verbreiten. Da, wo wir denen helfen, die jetzt gerade kein Einkommen haben, und denen, die kein Dach über dem Kopf haben. Da, wo wir uns weltweit vernetzen, um auch in anderen Ländern die Armut zu bekämpfen. Da, wo Schiffe auf dem Mittelmeer unterwegs sind, denn man lässt niemanden ertrinken.  Da, wo wir denen helfen, die in Not sind, egal, welcher Herkunft. Da, wo wir jeden Tag neu den Frieden und die Versöhnung suchen.
Da enstpringt der neue Trieb des Friedens.

Es ist ein Ros entsprungen. Eine stillere Nacht wird es werden in diesem Jahr, diese Stille Nacht. Eine kleinere Feier, vielleicht voller Enttäuschung und Einsamkeit und Sehnsucht nach lieben Menschen.

Aber es beginnt. Die Stille Nacht ist der Anfang. Es ist ein Ros entsprungen. Der Trieb wird wachsen aus der alten Wurzel. Er wird wachsen und grünen. Und eines Tages, eines Tages wird Frieden sein.

Amen.


Stille Nacht! Heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh!
Schlaf in himmlischer Ruh!

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
Lieb aus deinem göttlichen Mund,
Da uns schlägt die rettende Stund‘.
Christ, in deiner Geburt!
Christ, in deiner Geburt!

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Hirten erst kundgemacht
Durch der Engel Halleluja,
Tönt es laut von ferne und nah:
Christ, der Retter, ist da!
Christ, der Retter ist da!